
Das Jahr 2021 stand im Zeichen des Erinnerns und der Mahnung. Es war das Festjahr “1.700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland”. Überall in Deutschland wurde die Geschichte gefeiert – und die Historie gemahnt. Auch in der Uckermark ist die Geschichte der Juden untrennbar mit unserer Region verbunden. Vor allem die Kreisvolkshochschule organisierte Veranstaltungen, Themenabende und Ausstellungen zum Thema jüdisches Leben in der Uckermark. Ein zentraler Punkt waren Stadtführungen in Prenzlau, Schwedt, Angermünde und Templin – geleistet von zumeist ehrenamtlichen Stadtchronisten oder Mitgliedern der örtlichen Heimat- und Geschichtsvereine. Menschen, welche die Geschichte ihrer Städte aufarbeiten und an kommende Generationen weitergeben möchten. Für das Erinnern, aber auch gegen das Vergessen.
Am 21. August 2021 wurde eine solche Stadtführung in Templin angeboten. Und auch, wenn die eigentliche Veranstaltung schon einige Tage zurückliegt, bleibt das Thema zeitlos wichtig. Daher möchte ich meine Eindrücke von diesem Tag teilen. Und eventuell animiert es den einen oder anderen ja, sich in Templin oder seiner eigenen Stadt auf die Suche nach der Historie und diesen besonderen Orten der Erinnerung zu begeben.
Jüdisches Leben in Deutschland – zwischen Unterdrückung und Abhängigkeit
Ein Schweigen legt sich auf die Menschen, als Bärbel Makowitz zu sprechen beginnt. Es ist das Schweigen von Menschen, die sich bewusst sind, dass dieser Termin heute mehr sein wird als ein netter Spaziergang im Sonnenschein durch die hübsche Templiner Altstadt. Es ist der 21. August. Ein sonniger Samstagvormittag, der zum Wandern und Eis essen einlädt. Doch etwa 20 Personen haben sich dazu entschieden, sich vor dem historischen Rathaus in Templin zu einer Stadtführung zu versammeln. Die Veranstaltung, die durch die Kreisvolkshochschule Uckermark organisiert wird, ist Teil des bundesweiten Festjahres “1.700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland”. Eine Historie, die belastet ist. Eine Erinnerung daran, was passiert, wenn Menschen aufgrund von Stereotypen, Herkunft, Religion oder Ethnie von der Gesellschaft ausgeschlossen werden – und schlimmeres. Auch ich habe mich vor genau diesem Hintergrund des Erinnerns hier angemeldet. Und nicht nur mich allein. Neben meinem Mann begleitet mich an diesem Tag auch unser zehnjähriger Sohn. Es ist seine erste Veranstaltung dieser Art.
Frau Makowitz spricht ruhig und klar. Begleitet uns sachlich durch die ambivalente Geschichte der Stadt Templin mit ihren jüdischen Bürgern, deren Ansiedlung seit Verleihung des Stadtrechts 1320 nachweisbar ist. Über Jahrhunderte wurden Ihnen bürgerliche Rechte wie der Erwerb von Grundbesitz oder die Ausübung eines Handwerkes verwehrt, mussten jedoch die gleichen Pflichten erfüllen wie ihre christlichen Nachbarn. Man fragt sich unweigerlich, wieso Menschen eine solche Ungleichbehandlung ertragen. Das Verbot für Christen, Zinsgeschäfte zu tätigen, verlieh den jüdischen Bürgern eine wichtige Position innerhalb der Gemeinde. Damals wie heute waren Geldgeschäfte und Kredite ein unumgänglicher Motor für Investitionen in Fortschritt, Zukunft und Erhalt. Somit waren Juden für das Wirtschaftswachstum ihrer Gemeinde oftmals eine treibende Kraft.
Trotzdessen zeigen die historischen Dokumente, dass sich die jüdische Bevölkerungsgruppe in Notzeiten Gewalt und Hetze ausgesetzt sah. Beherrschten Krieg, Hunger oder Epidemien das Land, wurden Juden regelmäßig als vermeintlich Schuldige an den Pranger gestellt, entmachtet, enteignet, der Stadt verwiesen – oder gar getötet. Auch in einer kleinen Stadt wie Templin erhielt dieser Hass in der Stadtgeschichte immer wieder Einzug. Und ich frage mich, wie sich die Juden wohl gefühlt haben, als sie in Zeiten des Aufschwungs und des Wiederaufbaus immer wieder gern gesehene Bewohner wurden. Weil sie frisches Geld in die Stadt brachten. Menschen degradiert zu Geldbörsen.
Es ist nicht nur Geschichte, sondern Schicksale
Vom sonnigen Platz am Templiner Rathaus führt uns Frau Makowitz in die St. Georgenkapelle. Wie automatisiert setzen wir uns alle unsere Masken auf. Eine Pandemie macht auch vor einem Gotteshaus nicht halt. Sprach Frau Makowitz zu Beginn von anonymen Zahlen einer fast vergessen Einwohnerstatistik, gibt sie uns nun einen Einblick in menschliche Schicksale. Die kleine Kapelle aus dem 14. Jahrhundert ist das älteste Gebäude der Stadt Templin. Die Bänke, der hölzerne Altar, die backsteingotische Bauweise – alles hier atmet Vergangenheit. So fällt es mir nicht schwer, mir vorzustellen, wie hier 1749 der 18-jährige Moses Herz getauft wurde. Der Zeitungsbericht, der von dieser Prozedur berichtet, ist das Zeugnis einer Jahrhunderte alten Diskriminierung. Die Konvertierung des jüdischen Jungen zum Christentum wird als die Errettung seiner Seele gefeiert. Übertroffen wird das nur von der eindringlichen Warnung, bloß nicht rückfällig zu werden. Rückfällig zu was?, frage ich mich, während ich meinem Sohn den Rücken streichle. Moses war kaum älter als er. Was wohl in ihm vor sich ging, als er den Schritt der Konvertierung wagte? Ob es ein wirkliches Bekenntnis zum christlichen Glauben war oder seine Konvertierung die Folge einer lebenslang andauernden Unterdrückung, ist selbstverständlich nicht überliefert. Auch nicht, ob er einer Familie den Rücken kehrte, die um ihn weinte.

Es sind diese Einzelschicksale, welche die blanken Fakten und Zahlen mit Leben füllen. Mit Namen, persönlichen Geschichten und Gesichtern. Gesichtern wie das von Franziska Koeppen, der letzten Jüdin von Templin. Es scheint eine Ironie der Geschichte zu sein, dass sich Rassismus und Hass gegen Minderheiten dort am schnellsten ausbreiten, wo eben diese Minderheiten kaum vertreten sind. Denn obwohl Franziska Koeppen nach dem Tod ihrer Eltern die einzige Jüdin in der Stadt war, ergingen sich in Templin schon 1927 die ersten Hetzkampagnen gegen Juden. Und auch der Boykott jüdischer Geschäfte wurde im vorauseilenden Gehorsam bereits im März 1933 ausgerufen – die NSDAP hatte erst im April öffentlich zum Boykott jüdischer Geschäfte aufgerufen.
Die letzte Jüdin von Templin
Bilder werden herumgereicht. Auf ihnen zu sehen Franziska Koeppen und ihr Mann im Garten. Sie pflücken Brombeeren. Sie schaut in die Kamera, er scheint eine Beere zu naschen, anstatt sie in den dafür bereitgestellten Eimer zu legen. Eheleben. Vertraut, idyllisch, alltäglich. In einer anderen Zeit, einer anderen Welt wären es die langweiligen Bilder eines Lebens, das verläuft, wie unzählige andere. Ein Schnappschuss, den Enkel und Urenkel irgendwann ansehen, um eine vage Erinnerung an den bitter-sauren Geschmack von Brombeeren im großelterlichen Garten zu bewahren. An den Geruch von Großvaters Rasierwasser, an die Stimme einer Großmutter, die Marmelade kocht.

Aber Familie Koeppen lebte nicht in einer anderen Zeit. Die anhaltenden Feindseligkeiten und der Ausschluss jüdischer Kinder aus den öffentlichen Schulen veranlassten sie, ihre einzige Tochter Ruth nach Berlin zu schicken. In eine vermeintliche Sicherheit. Ein Foto von Ruth und ihrer Mutter liegt in meinen Händen. Ein Teenager, lächelnd in den Armen ihrer Mutter. Mein Sohn sieht sich dieses Bild mit besonderem Interesse an. “Ihr einziges Kind wurde nach Berlin geschickt. Keiner von ihnen wusste, ob sie sich wiedersehen und wann”, sage ich zu ihm. Er legt den Kopf auf meine Schulter. Ich lege meinen Kopf auf seinen. Unvorstellbar für uns beide. Eine Mutter, die ihr Kind fort schickt, wähnt sich in einer aussichtslosen Situation.
Doch Frau Koeppen schien einen Schutzengel zu haben. 1939 feierte sich Templin offiziell “judenfrei”. Doch Frau Koeppen lebte noch immer hier mit ihrem Mann. Ihr Name jedoch fehlt in der aktuellen Auflistung der Bevölkerung, wie Frau Makowitz bei ihren Nachforschungen feststellte. Vielleicht, so die Ortschronistin, gab es im Templiner Rathaus auch in diesen dunklen Zeiten noch Menschen, die ihre Menschlichkeit bewahrt haben. Ein trügerischer Hoffnungsschimmer.
Verraten, überlebt, allein
Franziska Koeppen wurde noch vor Kriegsende an die Nationalsozialisten verraten und deportiert. Es war ein Glück im Unglück, dass ihre Deportation erst 1944 geschah. Sie überlebte die Strapazen im Konzentrationslager und kehrte nach dem Krieg zurück in ihre Heimatstadt. Hier jedoch war sie allein. Ihr Mann, vermutlich geschwächt durch die jahrelange Angst vor Verrat, erlag 1945 einem Herzinfarkt. Ihre Tochter entkam den Nationalsozialisten, starb jedoch wenige Tage vor Kriegsende im Häuserkrieg in Berlin. Franziska Koeppen, die letzte Jüdin, überlebte und doch war ihr alles genommen. Sie blieb in Templin bis zu ihrem Tod und wurde hier neben ihrem Mann und ihrer Tochter beigesetzt.

Wir treten wieder hinaus in die Sonne, doch die Wärme will mir nicht in die Glieder fahren. Von der harten Kirchenbank schmerzt mein Rücken und ich fühle mich innerlich schwer. Ich nehme meine Maske ab und atme einmal durch, um die Geister der Vergangenheit ein wenig loszulassen. Wir gehen ein paar Schritte. Die Bewegung tut gut. Der Weg führt uns nun zum jüdischen Friedhof, der unter den Nationalsozialisten zerstört und durch eine Schülerinitiative wieder hergerichtet wurde. Der Weg auf den Friedhof ist für uns offen, doch ein Zögern geht durch die Gruppe. Die Männer schauen einander an. Die wenigsten unter ihnen haben eine Kopfbedeckung dabei. Diese ist eigentlich obligatorisch für Männer, die das 14. Lebensjahr vollendet haben. Es gibt eine kurze Debatte, doch Frau Makowitz beruhigt uns. Wir zollen dem Geschehen an diesem Ort unseren Respekt. Der Wille ist das, was schwerer wiegt als eine fehlende Kippa. Es ist dennoch eine unübersehbare Ironie unserer Zeit, dass jeder eine Maske griffbereit hat – doch zu einer Führung durch die jüdische Stadtgeschichte nicht an eine Kippa gedacht wurde.
Vergangenheit und Gegenwart – unteilbar
Die letzte Etappe unserer Führung bringt uns an das Berliner Tor. Ein im Boden eingelassener Davidstern zeugt von der Vergangenheit. Knapp darüber in der Stadtmauer stecken vier Nägel. An ihnen befestigt ist normalerweise eine Gedenktafel für die ehemalige Synagoge, die unter den Nationalsozialisten enteignet und später Friseursalon und Wohnhaus wurde. Zwei Mal wurde die Tafel bereits zerstört in diesem Jahr. Frau Makowitz erzählt, dass das Schild nun vorerst abgenommen wurde. Aus Angst vor weiterem Vandalismus, so die offizielle Begründung. Vier Schrauben sind alles, was von dieser Gedenktafel geblieben ist. Ich erinnere mich an den vorauseilenden Gehorsam, den die Stadt Templin bereits in den Jahren der NS-Herrschaft gezeigt hatte und muss schlucken.
Die Vergangenheit wirkt in die Gegenwart. Immer. Das wird mir an diesem Tag wieder mehr als bewusst. Die letzten Jahre der Corona-Pandemie haben gezeigt, dass auch heute die Menschen mehr als bereit sind, Sündenböcke für globale Katastrophen zu akzeptieren. Egal, wie absurd die Verschwörungsmythen sind, auch heute bedienen rechte Gruppierungen das Narrativ des „brunnenvergiftenden Juden“ – auch wenn er heute in Form einer angeblichen jüdisch-kapitalistischen Weltverschwörung daherkommt. Der Hintergrund bleibt derselbe – Rassismus und Antisemitismus.
Menschen wie Bärbel Makowitz erinnern uns daran, dass wir der Vergangenheit gedenken müssen, um unsere Gegenwart positiv zu gestalten. Nicht nur in Templin oder der Uckermark, sondern überall.
Erinnern
Meine Glieder schmerzen noch immer, als unsere kleine Familie schweigsam zurück zum Marktplatz geht. Unser Sohn verkündet, dass er Hunger hat und wir gehen noch ins Café Kolberg. Als wir davor stehen, hält er kurz inne und schaut auf die Hausfassaden. “Eins dieser Geschäfte hat der Frau gehört. Der letzten Jüdin.” Er hält noch einmal inne. “Die letzte … hm.” Dann sucht er sich seinen Kuchen aus. Es ist fast banal, aber es zeigt mir, dass er nachdenkt über das, was er heute gehört hat. Und es beruhigt mich. Ein Gefühl von Schwere, liegt wie Blei in meinem Inneren. Ich kenne dieses Gefühl. Es ist die Last einer Vergangenheit, die man nicht begreifen, nicht ändern kann, aber deren Verantwortung in die Zukunft greift. Ein Gefühl, das ich niemals vergessen will.